- Nordwestküstenkultur: Fischer am nördlichen Pazifik
- Nordwestküstenkultur: Fischer am nördlichen PazifikDie steil aufragenden Bergketten entlang der Pazifikküste des amerikanischen Nordwestens lassen den Völkern, die von den reichen Nahrungsvorräten des Meeres leben wollen, nur wenig Raum zur Ansiedlung. Der Küstenstreifen ist so schmal, dass es bis heute keine Straßen entlang des Ufers gibt. Gleichzeitig fangen sich in den dicht bewaldeten Bergen die Regenwolken, die vom Meer her an den Kontinent treiben. Immer wieder löst der Niederschlag Erdrutsche aus. Im 16., vielleicht auch erst im 17. Jahrhundert zerstörte eine solche Naturkatastrophe das Dorf Ozette an der Küste von Washington, das schon seit zwei Jahrtausenden von Fischern und Walfängern bewohnt war. Wie Kartenhäuser wurden die aus schweren Holzplanken errichteten Wohnbauten umgeworfen, und eine lehmige Schlammschicht deckte den Ort des Schreckens zu. Für Archäologen öffnete dieses »amerikanische Pompeji« ein bemerkenswertes Fenster in die Vergangenheit einer Region, deren Urgeschichte man lange nur lückenhaft kannte, weil die gegenüber organischem Material haltbarere Keramik hier unbekannt gewesen war und Steingeräte neben solchen aus Holz und Knochen eine recht geringe Rolle gespielt hatten. In Ozette hat die Schlammversiegelung all die sonst verwesenden organischen Materialien erhalten. Das Bild, das die Wissenschaft von Ozette gewonnen hat, entspricht dem, das sich 1778 James Cook auf seiner dritten Weltumseglung nur wenig nördlich bei den verwandten Nootka der Insel Vancouver geboten hatte.Der Reichtum an Fischen, Seesäugern und Meeresmollusken hatte zur Herausbildung sesshafter Gemeinschaften geführt, aber auch zur Entwicklung von Standesunterschieden zwischen Adligen, Gemeinfreien und Sklaven. Letztere waren vor allem Kriegsgefangene, denen als Fremden nur in eingeschränktem Maß die Menschennatur zugesprochen wurde, aber auch Schuldsklaven, die sich selbst beim Glücksspiel verspielt hatten. Die Adligen waren durch materielle und immaterielle Privilegien ausgezeichnet, wie etwa das Recht auf Waljagd oder den Anspruch auf Namen, Titel und Wappen. Solche Privilegien finden ihre Entsprechung in den der Legitimation der Macht dienenden mythischen Erzählungen. Sie trugen besondere Kleidung, sprachen oft eine besondere, ihrem Stand entsprechende Sprache und waren stets bestrebt, den Reichtum, den sie eigentlich als Verwalter ihrer Verwandtschaftsgruppe angehäuft hatten, demonstrativ zur Schau zu stellen. Die Adligen waren auch die Mäzene einer Berufskünstlerschaft, die für sie die sichtbaren Zeichen ihrer Sonderrechte, wie die Wappen, in einem über lange Zeit entwickelten und verfeinerten Stil schnitzte oder malte. Dazu zählten, allerdings erst später, auch die monumentalen Totem- oder besser Wappenpfähle.Die pazifische Nordwestküste war erstmals wohl etwa im 10. Jahrtausend v. Chr. von Menschen betreten worden, nachdem der Rückgang der Gletscher einen Zugang zur Küste geöffnet hatte. Aber erst aus der Zeit vom 4. Jahrtausend v. Chr. an gibt es Zeichen für den Beginn einer spezifischen Anpassung an die maritimen Verhältnisse, die schließlich zur großen Blüte der Nordwestküstenkultur führen sollten. Mollusken stellten sicher einen Hauptteil der Nahrung dar; jedenfalls fand man Abfallhaufen aus Muschelschalen, die - bis zu 5 m hoch - mehrere Hektar Land bedeckten. Noch wichtiger aber war die Ausbeute an Lachsen, die man während ihrer jährlichen Züge des Lachs, die man an den Stromschnellen abfing; so konnten in wenigen Tagen Nahrungsvorräte für Monate angelegt werden.Die entscheidenden Veränderungen der Kultur erfolgten aber erst zwischen 1500 v. Chr und 500 n. Chr., als die sesshaften und wirtschaftlich abgesicherten Küstenbewohner durch das Netzwerk des Fernhandels zahlreiche Anregungen von außen erhielten, die sie für ihre eigenen Ziele weiterentwickelten. Dem Kontakt mit der Arktis verdankte man die bessere Knebelharpune, aus dem Osten übernahm man möglicherweise die heute meist zerstörten Grabhügel, die wohl ebenso wie Steinkistengräber der Bestattung von Adligen dienten. Auch manche Züge des typischen, stark formalisierten zweidimensionalen Kunststils der Nordwestküste, der sich in dieser Zeit auszuprägen begann, mögen auf Anregungen von außen zurückgehen. Die offensichtliche Entwicklung des Kriegswesens lässt darauf schließen, dass es nun mehr als zuvor Reichtümer zu erobern (und zu verteidigen) galt.Dem Ordnungsschema der amerikanischen Archäologie nach war die Nordwestküstenkultur im Archaikum steckengeblieben. Zu einer formativen Lebensweise fehlten Bodenbau - angebaut wurde lediglich etwas Tabak - und Keramik; gekocht wurde in Holzkisten, in die, nach dem Prinzip des Tauchsieders, heiße Steine gelegt wurden. Tatsächlich macht das Beispiel Ozettes aber nur deutlich, dass der Weg zu einer bedeutenden Kulturentwicklung nicht notwendigerweise über eine agrarische Lebensweise führen muss.Prof. Dr. Christian F. FeestDie Indianer. Kulturen und Geschichte, Band 1: Lindig, Wolfgang: Nordamerika. Von der Beringstraße bis zum Isthmus von Tehuantepec. München 61994.
Universal-Lexikon. 2012.